Schülerzentriertes Leitungshandeln

Durch Teilhabe und Mitgestaltung Schule verändern – so der Ansatz des Schülerzentrierten Leitungshandeln. Im Mittelpunkt steht dabei die Partizipation von Schüler:innen sowie die Ausrichtung des pädagogischen Handelns an dem, was Kinder und Jugendliche für ihre Entwicklung benötigen. 

Kinder und Jugendliche möchten sich einbringen und beteiligt werden. Der erste Schritt auf dem Weg zur Teilhabe ist Mitbestimmung. Wie die 4. World Vision Studie „Kinder in der Welt 2018“ belegt, hängen Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Schulleistungen eng miteinander zusammen: Je selbstbestimmter sie sich selbst erleben, umso eher bezeichnen sie sich in dieser Studie als gute oder sehr gute Schüler:innen. Gleichzeitig schafft die aktive Teilhabe mehr Transparenz, fördert eine positive Kultur des Miteinanders zwischen Lehrkräften und Schüler:innen und verbessert dadurch das Schulklima und die Qualität der Schule. 

Doch wie kann Teilhabe an Schule erfolgreich gelingen? Wie lässt sich eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Schüler:innen einbringen können und wollen? Und was müssen Lehrkräfte und Pädagog:innen tun, um ihr Handeln an dem auszurichten, was Kinder und Jugendliche für ihre individuelle Entwicklung benötigen? Gemeinsam werfen wir einen Blick nach Norwegen, wo das Konzept des schülerzentrierten Leitungshandeln Anwendung findet. 

© Unsplash/Seth Kane

Im Überblick: Das Schulsystem in Norwegen

Die Norweger:innen sind glücklich – das belegen jährliche Studien, darunter der World Happiness Report, wo sich das Land seit vielen Jahren unter den Top 10 Ländern weltweit einreiht. Grund dafür ist auch das Bildungssystem. Das oberste Ziel der norwegischen Bildungspolitik ist es, das Recht auf gleiche Bildung für alle Mitglieder:innen der Gesellschaft – ungeachtet ihres sozialen oder kulturellen Status oder Wohnorts – zu ermöglichen. Dafür investiert das Land viel in Bildung und hat in den letzten Jahrzehnten umfangreiche Bildungsreformen durchgeführt. Mit Erfolg: Seit 2016 liegt Norwegen bei PISA über dem OECD-Durchschnitt.

Das norwegische Schulsystem besteht aus drei bzw. vier Bildungsstufen: Vorschule, Grundschule sowie eine erste und eine zweite Sekundarstufe. Bereits ab dem ersten vollendeten Lebensjahr hat zudem jedes Kind in Norwegen das Recht auf einen Platz in der „Barnehage“ (Kindergarten). Ab dem sechsten Lebensjahr erfolgt dann der Übergang zu Barneskole (Grundschule). Gemeinsam lernen die Schüler:innen dort bis zur siebten Klassenstufe ohne Noten. Die Inhalte werden auf spielerische Art vermittelt. Der Fokus liegt zunächst auf den Fächern Norwegisch, Englisch, Mathematik sowie Naturwissenschaften. Auch soziale Strukturen sind ein wichtiger Bestandteil. Mit jeder höheren Klassenstufe werden die Lerninhalte dann um weitere komplexere Fächer wie Geografie oder auch Geschichte ergänzt. Seit 2020 finden sich auch die Fächer öffentliche Gesundheit und Ernährung, Demokratie und Bürgerbeteiligung sowie nachhaltige Entwicklung in den Lehrplänen wieder. 

Mit dem Erreichen des 13. Lebensjahrs, treten die Schüler:innen in die Sekundarstufe I (Ungdomsskole) über, wo sie weiterhin gemeinsam bis zur 10. Klassenstufe lernen – und erstmals benotet werden. Im Anschluss wechseln die Schüler:innen (freiwillig) in die gymnasiale Oberstufe oder Sekundarstufe II. 

Exkursion von "LiGa – Lernen im Ganztag":  
Das norwegische Bildungssystem kennenlernen 

Einen Eindruck vom norwegischen Bildungssystems machten sich knapp 30 Schulakteur:innen, darunter 13 Schulleitungen und 8 Schulaufsichten, im Rahmen einer Exkursion von LiGa – Lernen im Ganztag Schleswig-Holstein. Sie besuchten unter anderem die an Oslo angrenzende Lørenskog-Kommune, bei der sich auch die Hammer Skole, die Majorstuen Skole und die Deutsche Schule Oslo vorstellten. Während verschiedener Vorträge wurden den Teilnehmenden folgende Thesen deutlich:  

  • Der Mensch steht im Mittelpunkt

Den Kern des norwegischen Bildungssystems bildet das „Curriculum“, das den Menschen und dessen Bedürfnisse zum Lernen und zur Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. An dieser Grundlage richten sich alle Qualitätsrahmen und Fachlehrpläne aus. In der Umsetzung zeigt sich dies zum einen in der Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler:innen (die sogenannte „Relasjonskompetanse“, die auch gesetzlich streng verankert ist) sowie der Führungskultur an den besuchten Schulen. 

  • Datenbasiertes Bildungsmonitoring als Unterstützung für Schulaufsichten und Schulleitungen

Neben den weichen Faktoren spielt in der Qualitätssicherung der norwegischen Schulen das datenbasierte Bildungsmonitoring eine große Rolle. So werden beispielsweise alle Ergebnisse der nationalen Tests und Vergleichsarbeiten systematisiert digital festgehalten, sodass die Schulleitungen schnell einen Eindruck über einzelne Schüler:innen oder über den gesamten Jahrgang gewinnen können. Diese Daten bilden die Grundlage für Gespräche mit den Lehrkräften. Außerdem werden Unterrichtsbesuche nach der Vorlage des Stanford-Protokolls ausgewertet. 

  • Voneinander Lernen gilt für alle

Dialogische Verfahren sowie das Prinzip des „Voneinander Lernens“ sind im norwegischen Schulsystem fest verankert. Weit verbreitet ist das Bilden von Tandems und Teams aus Lehrkräften an den verschiedenen Schulen. In der Lørenskog-Kommune lernen beispielswiese auch die verschiedenen Schulformen voneinander: Hier besuchen die Lehrkräfte und Schulleitungen der Barneskole (1.-7. Klasse) regelmäßig die Ungdomskole (8.-10. Klasse) und umgekehrt.

  • Die Qualitätsentwicklung an norwegischen Schulen orientiert sich an internationalen Forschungsergebnissen und Konzepten  

Um sowohl Leitungsteams an Schulen effizient und positiv zu steuern als auch Kinder und Jugendliche auf die Zukunft vorzubereiten, blickt Norwegen weit über den Tellerrand hinaus. Für die Organisationsentwicklung hob Marianne Stenberg von der Majorstuen skole vor allem die Forschung von Viviane Robinson, Michael Fullan und John Hattie hervor. Auch im Unterricht zeigt sich eine deutliche Annäherung an internationale Konzepte. Als roter Faden zogen sich die sogenannten 21st Century Skills durch die Schulprogramme der einzelnen Schulen. Die 21st Century Skills sind ein zukunftsorientiertes Rahmenkonzept für diverse Lerninhalte und Wissensfundamente in der Primar-, Sekundar-, Tertiär- und lebenslangen Weiterbildung. Der Rahmen wurde mit Lehrkräften, Bildungsexpert:innen und Unternehmer:innen Anfang 2000 erarbeitet. Die Expertengruppe fragte sich dabei: Was brauchen wir für Fähigkeiten, um im 21. Jahrhundert ein selbstbestimmtes Leben zu führen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen zu können?

Weitere Thesen und mehr zur Exkursion finden Sie hier zum Nachlesen: Von den Nachbarn lernen 

Keynote von Marianne Stenberg beim LiGa Fachtag zum Thema „The Dimensions of Student-Centered Leadership“ 

Marianne Stenberg, ehemalige Schulleiterin Majorstuen Schule Oslo, hielt während des Fachtags von LiGa – Lernen im Ganztag eine Keynote zum Thema Student-Centered-Leadership. Dabei betonte sie, dass der Lernerfolg der Schüler:innen für sie das wichtigste [gewesen] sei. Jede Schulleitung sollte sich ihrer Ansicht nach die Frage stellen, was hochwertigen Unterricht an ihrer Schule ausmacht. Ebenso zentral seien regelmäßige Unterrichtshospitationen in kleinen Teams und Feedbackinstrumente, um die pädagogische Praxis zu überprüfen. Sie helfen dabei, das Risiko des persönlichen Scheiterns der Lehrkräfte zu reduzieren, so Stenberg. Um dies sicherzustellen, haben alle Lehrkräfte an der Majorstuen Schule ein:e eigene:n Lernpartner:in, die für ein Jahr in einem „LernDuo“ zusammenarbeiten und vier- bis sechsmal im Jahr gegenseitig im Unterricht hospitieren. Mittels Feedbackbögen geben sich die Kolleg:innen konstruktives Feedback zu einem vorab formulierten Lernziel, das zum jährlichen Entwicklungsschwerpunkt der Schule passt. 

Für ihre praktische Arbeit machte sich Marianne Stenberg den „Student-Centered Leadership“-Ansatz von Viviane Robinson zunutze, sowie weitere wissenschaftliche Modelle und Ereignisse, wie die Zehn Merkmale guten Unterrichts der Universität Oldenburg.

Der Student-Centered Leadership-Ansatz von Viviane Robinson

Studie: „The Impact of Leadership on Student Outcomes“ 

Im Jahr 2008 haben Viviane Robinson, Claire A. Lloyd und Kenneth J. Rowe die Metastudie „The Impact of Leadership on Student Outcomes“ veröffentlicht. Darin gehen sie der Frage nach, wie sich unterschiedliche Führungsstile auf die Ergebnisse und das Sozialverhalten der Schüler:innen auswirken. Robinson und ihr Team nahmen für ihre Analyse nicht die rahmengebenden Sichtstrukturen – wie Schulmanagement oder Beziehungspflege auf Ebene der Schulleitung – in den Blick. Stattdessen haben sie die Effektivität des Führungs- und Leitungshandelns daran gemessen, ob es Auswirkungen auf das Lernen, die Leistungen und das Wohlbefinden der Schüler:innen hat. Festgemacht haben Robinson und ihr Team das wirksame Führungshandeln an knapp 200 Items, die in den 30 Einzelstudien ihrer Metastudie erfasst wurden.  

Das Konzept des schülerzentrierten Leitungshandeln

Ausgehend von der Metastudie hat Viviane Robinson das Konzept „Student-Centered Leadership“ entwickelt und 2011 das gleichnamige Buch veröffentlicht. Das Konzept beinhaltet konkrete Empfehlungen für effektives Führungs- und Leitungshandeln. Die Handlungsempfehlungen haben Robinson und ihr Team in fünf Dimensionen zusammengefasst, für die sich ein relevanter Effekt auf die Schülerleistungen nachweisen lässt. Die fünf Dimensionen bauen aufeinander auf und beeinflussen sich wechselseitig. Für ein effektives Führungs- und Leitungshandeln in allen fünf Dimensionen sind drei Kompetenzen erforderlich, die von Robinson wie folgt definiert werden:

  • pädagogisches Wissen in die Praxis integrieren,  
  • komplexe Probleme lösen und  
  • vertrauensvolle Beziehungen aufbauen 

Die fünf Dimensionen schülerzentrierter Führung nach Robinson:

© Auszug Publikation LeitIDEEN 2019

Ziele und Erwartungen bestimmen

Ziele sind ein wichtiges Steuerungsinstrument für die Schulentwicklung. Dabei schülerzentriert zu denken bedeutet, Ziele aus dem Bildungsauftrag und einem anzustrebenden Zustand abzuleiten. Darauf aufbauend werden für die Schule, für einzelne Abteilungen oder Teams realistische Ziele beschrieben, die innerhalb von ein bis zwei Jahren erreichbar sind. Wichtig ist, dass es diese Ziele vom Papier in die Praxis schaffen.

Mithilfe der folgenden Reflexionsfragen lässt sich die Effektivität der Zielsetzung kontrollieren:  

  • Sind alle Beteiligten im Team, in der Abteilung oder in der Schule von der Bedeutung des Ziels überzeugt? 
  • Sind unsere einzelnen Ziele darauf ausgerichtet, die übergreifenden Schulentwicklungsziele zu erreichen? 
  • Sind sich unsere Lehrkräfte der Lernziele bewusst, die in ihrer Verantwortung liegen?  
  • Sind unsere Lehrkräfte von der Erreichung ihrer Ziele überzeugt?  
  • Verfügen unsere Lehrkräfte über das Wissen und die Kompetenzen, um ihre Ziele zu erreichen?  
  • Sind unsere Lehrkräfte mit hinreichenden Ressourcen ausgestattet, um ihre Ziele zu erreichen? 

Ressourcen strategisch einsetzen

Durch den gezielten Einsatz von Ressourcen können schulische Führungskräfte indirekt Einfluss auf die Schülerleistungen nehmen. Ressourcen wie Geld, Zeit, Räume und Ausstattung, die in Schulen oft knapp sind, werden von den Führungskräften systematisch für das Erreichen der Ziele eingesetzt. Folgende Fragen sind dabei relevant:  

  • Zeigen wir mit unserem Verhalten, dass es für guten Unterricht nicht unbedingt mehr Ressourcen braucht? 
  • Wie offen sind wir dafür, traditionelle Muster zu brechen und die Zuteilung von Zeit, Personal und Geld neu zu denken? 
  • Richtet sich unsere Personalauswahl nach den Bedürfnissen der Schüler:innen? 

Hohe Unterrichtsqualität gewährleisten

Guter Unterricht ist das Wichtigste und das, worauf es in der Schule wirklich ankommt, so Robinson. Schulische Führungskräfte müssen trotz zahlreicher Ablenkungen immer im Blick behalten, dass alle Schüler:innen erfolgreich und auf einem hohen Niveau lernen. In enger Zusammenarbeit mit den Lehrkräften können sie dafür verschiedene Maßnahmen ergreifen. Dazu zählen die Entwicklung eines schulischen Leitbildes, das Feedback an die Lehrkräfte und die datengestützte Unterrichtsentwicklung. Folgende Reflexionsfragen unterstützen dabei:  

  • Arbeiten wir an der Unterrichtsentwicklung und koordinieren diese innerhalb der Schule? 
  • Gibt es ein gemeinsames Verständnis von gutem Unterricht? Auf welchen (wissenschaftlichen) Erkenntnissen basiert unser Verständnis? 
  • Erlangen wir durch unsere Tests und Prüfungen Erkenntnisse, die den Lehrkräften in der Gestaltung ihres Unterrichts helfen? 
  • Gibt es Vorbehalte gegenüber einer datengestützten Unterrichtsentwicklung? 
  • Was tun wir, um diese Vorbehalte abzubauen? 

Das Lernen und die Weiterentwicklung der Lehrkräfte fördern

Die vierte Dimension beinhaltet das gemeinsame Lernen von Lehrkräften. Aufgabe der schulischen Führungskräfte ist es, strukturierte Lerngelegenheiten für Lehrkräfte zu koordinieren. Das können beispielsweise kollegiale Hospitationen, schulinterne Fortbildungen oder Arbeitsgruppen zum Thema Unterrichtsentwicklung sein. Die Gestaltung solcher Formate kann sich dabei nach den folgenden Fragen richten: 

  • Basieren die Lerngelegenheiten für Lehrkräfte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen? 
  • Ist die Personalentwicklung nach den Bedürfnissen der Schüler:innen ausgerichtet? 
  • Unterstützen wir die Lehrkräfte dabei, sich in Problemlagen kollegial zu beraten? 
  • Evaluieren wir die Lerngelegenheiten für Lehrkräfte nach ihrer Wirkung auf die Schüler:innenergebnisse? 

Geordnete und sichere Rahmenbedinungen gewährleisten

In der Schule braucht es eine Umgebung, die physische und psychische Sicherheit garantiert. Lehrkräfte haben das Gefühl respektiert zu werden und die Schüler:innen merken, dass ihre Lehrkräfte sich um sie und ihren Lernfortschritt kümmern. Der ungestörte Unterricht wird durch verbindliche Regeln sichergestellt. Diese Bedingungen tragen auch zum Wohlbefinden aller schulischen Akteur:innen und somit zu einer Steigerung der Schüler:innenleistungen bei. Diese Fragen helfen bei der Reflexion: 

  • Befragen wir die Schüler:innen regelmäßig zu ihrem Wohlbefinden und dem eigenen Lernen? 
  • Nutzen wir das daraus gewonnene Wissen zur Qualitätsentwicklung? 
  • Orientieren sich unsere Schulregeln an allgemeingültigen Regeln einer funktionierenden Gemeinschaft? 
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